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Interview
Rhythm 0 – Die Diagnose
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01.07.2025
Vielleicht kann ich am besten beschreiben, was ich mit meinem verbleibenden Leben bewirken möchte, indem ich mich auf die Künstlerin Marina Abramovic und ihre Performance „rhythm 0“ beziehe. Jetzt, wo ich mit hoher Wahrscheinlichkeit an der amyotrophen Lateralsklerose erkrankt bin.
In dieser Performance, aufgeführt 1974 und damit ein Jahr vor meiner Geburt, macht sich Abramovic dem Publikum absolut verwundbar. Äußerlich hilflos und ohne sich in irgendeiner Weise zu wehren, lädt sie Menschen ein, alle Handlungen, die sie wünschen, an ihr vorzunehmen. 74 Objekte legt sie hierfür selbst bereit, von einer Feder über Trauben und Wein bis hin zu Rasierklingen und einer geladenen Pistole. Ihr soziales Experiment offenbarte, wie Menschen fähig sind, eine wehrlose Person zu quälen, zu erniedrigen und zu missbrauchen. Und wie nur das empathische Engagement weniger das Schlimmste zu verhindern imstande ist.
Aufgrund meiner schweren Erkrankung gerate ich zunehmend in eine Lage, die der Abramovics ähnelt. Nur handelt es sich nicht um eine zeitlich begrenzte Aufführung, sondern um den Entwurf meines gesamten Lebens. Denn unverrückbares Kennzeichen der ALS ist, den gesamten Körper eines Menschen komplett zu lähmen und ihn damit zu vollständiger Ohnmacht zu verdammen. Es gibt wohl kaum einen Zustand, der die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins so offen zutage fördert wie diese unheilbare und tödlich verlaufende Krankheit. Dabei werde ich als Betroffene – ähnlich wie Abramovic damals – innerlich vollkommen wach und geistig präsent bleiben.
Im Gegensatz zu Abramovic habe ich keine Wahl, ob ich Verwundbarkeit vorübergehend inszenieren möchte; sie ist mein Leben. Was damit anfangen? Viele Menschen fragen mich mehr oder weniger unverhohlen, wann ich „in die Schweiz gehen“ werde. Das soll heißen, dass sie sich nur die Flucht in den Suizid als Ausweg vorstellen können. Ein Leben in totaler Abhängigkeit scheint ihnen unmöglich ein lebenswertes sein zu können. Und natürlich haben sie Recht inmitten einer Gesellschaft, die zu allergrößten Teilen auf individuelle Stärke setzt und in der wir leisten müssen, um auch uns das Lebensnotwendige zu verdienen. Genau deswegen aber möchte ich erforschen, ob es auch anders gehen kann.
Ich treffe also die Entscheidung, mich in meiner zunehmenden Schwäche nicht zurückzuziehen oder sogar mein Leben zu zerstören, sondern weiter in der Öffentlichkeit zu wirken. Ich mache damit mein Leben zu einer Untersuchung des menschlichen Wesens – und welche Ergebnisse diese Untersuchung zeitigen wird, wird unweigerlich an meinen Mitmenschen hängen. Ich habe es unmöglich allein in der Hand. Gemeinsam gestalten wir ein soziales Experiment, das individuelle Identität und Formen der Gemeinschaft und Gesellschaft hinterfragt und einlädt, sie neu zu gestalten. Wie Abramovic enthülle ich dabei die rohe Verwundbarkeit des menschlichen Körpers und stelle gesellschaftliche Normen und Konventionen in Frage, wie wir mit Schwäche und Verletzlichkeit umgehen.
Doch im Gegensatz zu ihr möchte ich keinen Raum einrichten, in dem der Ausbruch der Rohheit des menschlichen Wesens bereits angelegt ist. Stattdessen möchte ich meine geistige Klarheit und innere Stärke dafür einsetzen, mit Weggefährt:innen einen sozialen Raum zu schaffen, indem aus totaler individueller Verletzlichkeit und des Eingeständnisses unbedingter wechselseitigen Abhängigkeiten, möglichst viele Formen der Großzügigikeit, Empathie, Solidarität und Gestaltungsfreude erwachsen können. Wie lässt sich inmitten einer von Macht und Stärke dominierten Gesellschaft ein neuer Keim solidarischen Miteinanders nähren? Wie können wir neu zusammenwirken, wenn wir unsere Schwächen zum Anlass nehmen, uns zu öffnen und zu begegnen?
Im Gegensatz zu Abramovic werde ich nicht nach sechs Stunden aufstehen und dem sozialen Experiment ein Ende bereiten können. Ich entscheide mich stattdessen dazu, buchstäblich mein gesamtes verbleibendes Leben diesem neuen sozialen Raum zu widmen. Mögen daraus gänzlich neue Spielräume des Menschlichen und Zwischenmenschlichen erwachsen!
Ein Neurologe sagt: „Die ALS ist der schlagende Gegenbeweis dafür sei, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.“ Lasst uns hierzu wiederum den Gegenbeweis antreten und meine ALS zum Anlass nehmen, uns der menschlichen Würde zu vergewissern und für sie einzustehen!